Wenn Sie am 8. November unter den Zuhörern der gut besuchten Einwohnerversammlung in der Stadthalle waren, am 13. Dezember die Gemeinderatssitzung in der Stadthalle verfolgt haben oder die Kehler Zeitung lesen, kennen Sie das Thema, das eine Interessengemeinschaft Kernstadt Kehl im Frühjahr 2023 im „Anker 36″ ungefähr so formuliert hat: Die Kernstadt braucht wie die zehn vor gut 50 Jahren eingemeindeten Ortschaften ein Gremium, in dem speziell ihre Belange aufgegriffen und beraten werden. Ist das plausibel? Vielleicht hilft wie so oft ein Blick in die Geschichte.
1. Sachverhalt
Die kommunale Gebietsreform Anfang der 1970er Jahre hat Kehl quantitativ und qualitativ nachhaltig verändert. Zehn Gemeinden wurden ab Juli 1971 innerhalb von 3 ½ Jahren nach Kehl eingemeindet.
Quelle: Wikipedia „Kehl“
Sie unterschieden sich teils erheblich voneinander. Die eingemeindeten nördlich gelegenen Ortschaften und Hohnhurst im Süden gehörten bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zum Hanauerland, das durch eine gemeinsame Sprache und Kultur mit dem Pays de Hanau in und um Bouxwiller im Elsass verbunden war. Kehl selbst war zunächst eine Festungsanlage und wurde erst 1774 Stadt. Kehl-Dorf und Sundheim waren bis 1910 selbstständig und bewahrten ihre Identität noch eine Weile über die Eingemeindung nach Kehl-Stadt hinaus.
Im Zuge der Eingemeindungen in den 1970er Jahren wuchs die Gemarkungsfläche von 14 km² auf 75 km² und die Einwohnerzahl rund um die Hälfte von 19.000 auf 29.000 an. Heute beläuft sie sich auf knapp 39.000. Rund jeder zweite Einwohner lebt in der Kernstadt.
Über die Belange der Gesamtstadt berät und beschließt der Gemeinderat, nach der Gemeindeordnung das oberste Verwaltungsorgan. In den zehn eingemeindeten Ortschaften wirken daneben auch Ortschaftsräte an der politischen Willensbildung mit. Sie werden in den Ortschaften zusammen mit dem Gemeinderat gewählt.
Die Kernstadt verfügt nicht über ein stadtteileigenes Gremium. Die Interessengemeinschaft Kernstadt Kehl (IGKK) wirbt deshalb seit ca. einem Jahr für ein solches Gremium. Die CDU/FDP-Fraktion hat der Verwaltung daraufhin aufgetragen, die Einführung einer Bezirksverfassung in der Kernstadt zu prüfen. Die Fraktion der Freien Wähler hat der Verwaltung einen Prüfauftrag, eine Ortschaftsverfassung in der Kernstadt betreffend, erteilt.
Der Gemeinderat hat in seiner Sitzung am 19.07.2023 die Vorlage 178/23 zur Kenntnis genommen, in der die Verwaltung die Einführung einer Bezirksverfassung in der Kernstadt aus Kostengründen ablehnt. Am 13.12.2023 hat der Gemeinderat auf Vorschlag der Verwaltung mit großer Mehrheit beschlossen, in der Kernstadt Kehl nicht die Ortschaftsverfassung einzuführen (Vorlage 296/23).
Damit ist den Kernstadtbewohnern die Mitwirkung an der politischen Willensbildung in Kehl über ein stadtteileigenes Gremium fürs Erste verwehrt. Begründet wird die Entscheidung 1. mit einer Verzögerung der Entscheidungsprozesse durch die Beteiligung eines Ortschaftsrats, 2. mit Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen den Zuständigkeiten des Ortschaftsrates, des Ortsvorstehers und des Oberbürgermeisters und 3. mit den Kosten, die durch den Ortschaftsrat und den Ortsvorsteher entstehen.
Dass Gemeinderatsmitglieder in der Aussprache am 13.12.2023 gegen ein Gremium für die Kernstadt einwandten, in Baden-Württemberg seien lediglich zehn Kernorte mit einer Ortschaftsverfassung ausgestattet, beruht auf einer irrtümlichen Behauptung des Städtetagsreferenten Norbert Brugger in der Einwohnerversammlung am 08.11.2023. Er hat in einer Studie lediglich die Kernorte mit einer Ortschaftsverfassung erfasst, die sich ausschließlich nach dem Gesamtort benennen, ohne einen Zusatz wie „Kernort“ oder „Kernstadt“. Üblich sind aber auch Ortschaftsbezeichnungen wie „Kernstadt XYZ“, so u.a. in Haigerloch, oder „XYZ Kernstadt“, so u.a. in Bad Liebenzell, Orte, die Norbert Brugger in seiner Studie nicht erfasst hat.
Die erwähnten drei Nachteile einer Ortschaftsverfassung gelten unstreitig nicht nur für die Kernstadt, sondern im Prinzip mehr und weniger auch für die zehn Kehler Ortsteile, die die Ortschaftsverfassung seit den 1970er Jahren haben. Eine schlüssige Begründung für die Ungleichbehandlung hat die Stadtverwaltung nicht geliefert. Mit der dezidierten Empfehlung an den Gemeinderat, der Kernstadt eine Ortschaftsverfassung zu versagen, hat sie zudem eine Abwägung vorweggenommen, die dem Gemeinderat zusteht.
Da auch in der Aussprache des Gemeinderats am 13. Dezember kein plausibler Grund für die Ungleichbehandlung genannt wurde, soll im Folgenden danach gesucht werden. Eine Ungleichbehandlung ist gerechtfertigt, wenn sich ein sachlicher Grund nachweisen lässt.
2. Eingemeindungen – Rechtsgrundlagen und Ziele
Eingemeindungen waren in den 1970er Jahren in den westlichen Bundesländern weit verbreitet. In den östlichen waren sie nach der Wiedervereinigung in den 1990er und 2000er Jahren üblich.
Rechtsgrundlage der Eingemeindungen in Baden-Württemberg waren zwei Gesetze zur Stärkung der Verwaltungskraft kleinerer Gemeinden von 1968 und 1970, die einen freiwilligen vertraglichen Zusammenschluss bezweckten, und das Besondere Gemeindereformgesetz vom 9. Juli 1974, das einen zwangsweisen Zusammenschluss auf gesetzlichem Wege vorsah. Die zehn Kehler Eingemeindungen kamen freiwillig zustande. Den eingemeindeten Ortschaften wurde vertraglich einiges zugesichert, darunter die Einführung der Ortschaftsverfassung in ihrem Stadtteil.
Sinn und Zweck solcher Gebietsreformen sah und sieht die Landesregierung in einer Stärkung der Leistungskraft der Verwaltung, der Herstellung möglichst gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land und der Berücksichtigung von Verflechtungen der Lebensbereiche der Einwohner hinsichtlich ihrer Wohnung, ihres Arbeitsplatzes, der Dienstleistungen und der Bildung und Erholung (Stellungnahme der Landesregierung vom 17.01.2018 im Landtag zu einem Begehren der Stadt Reutlingen).
3. Evaluation von Eingemeindungen
Eine Evaluation von Eingemeindungen hat in vielen betroffenen Bundesländern stattgefunden, teils von Amts wegen in den zuständigen Ministerien, teils an Hochschulen und ähnlichen Einrichtungen.
In Baden-Württemberg ist die kommunale Gebietsreform der 1970er Jahre, soweit ersichtlich, vom Land nie umfassend evaluiert worden. Dagegen liegen einige umfassende wissenschaftliche Untersuchungen zur Wirkung von Eingemeindungen vor.
So hat das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim 2017 ein Diskussionspapier mit dem Titel „Was bringen kommunale Gebietsreformen? Kausale Evidenz zu Hoffnungen, Risiken und alternativen Instrumenten“ veröffentlicht. In der Zusammenfassung schreiben die Verfasser Sebastian Blesse und Felix Rösel, seit Jahrzehnten werde in der Hoffnung auf Kosteneinsparungen und eine höhere Leistungsfähigkeit der Verwaltung fusioniert. Evaluationsstudien hätten bisher allerdings selten Effizienzrenditen von Gebietsreformen nachgewiesen. Dagegen ergebe sich eine unbeabsichtigte Nebenwirkung auf die politische Partizipation: Die Bürger seien weniger zufrieden mit der Demokratie und gingen seltener zur Wahl. Die Ungleichheit zwischen den Ortsteilen nehme zu.
4. Folgen der Gebietsreform in Kehl
Eine spezielle Studie über die Folgen der Gebietsreform der 1970er Jahre in Kehl müsste unter anderem auf eine Analyse der Gemeinderatssitzungen und des Vollzugs von Gemeinderatsbeschlüssen in der Kernstadt und den Ortschaften gestützt werden. Es spricht einiges dafür, dass der Gemeinderat bislang überproportional häufig über Belange einzelner Ortschaften und weniger über Belange der Kernstadt beraten hat.
Dieser Eindruck lässt sich an einzelnen Projekten belegen, so etwa an der seit mehr als acht Jahren ausstehenden Sanierung und Umgestaltung der Hauptstraße zwischen Oberländerstraße und Ehrmannstraße. Nach der Abstufung der Hauptstraße von einer Bundesstraße zur Gemeindestraße zum 01.01.2016 vereinbarte die Stadt mit dem Bund eine Ablösung für Unterhaltungsrückstände und beauftragte ein externes Büro mit der Planung zur Beseitigung städtebaulicher Missstände, Förderung der Aufenthaltsqualität und Beseitigung baulicher Mängel in der Fahrbahn der Hauptstraße (Vorlage 332/15). Über diese Planungsphase ist die Stadt bis heute nicht hinausgekommen. In einer Ortschaft mit einer Ortschaftsverfassung hätte der Ortschaftsrat dieses Versäumnis längst aufgegriffen und interveniert.
Ähnlich verhält es sich mit der vor mehr als zehn Jahren mit Straßburg vereinbarten Bebauung der Rheinufer, ein Projekt in der Kernstadt, aber mit Wirkung auf die Gesamtstadt und darüber hinaus. In einer gemeinsamen Gemeinderatssitzung der Städte Straßburg und Kehl am 01.12.2021 kündigte OB Vetrano nach der Straßburger Präsentation der fortgeschrittenen Bebauung in vier neuen Straßburger Vierteln an, „dass sich der Kehler Gemeinderat noch in diesem Jahr mit dem Zollhofgelände beschäftigen werde“ (Kehler Zeitung vom 03.12.2021). Unerwähnt blieb, dass bereits 2012 ein Ideenwettbewerb stattgefunden hat, bisher aber nichts davon umgesetzt wurde. Auch im Dezember 2021 hat sich der Gemeinderat nicht mit dem Zollhofgelände beschäftigt.
Zwischenzeitlich ist 10 km weiter südlich in einem Naturschutzgebiet bei Neuried ein „Europäisches Forum am Rhein“ entstanden, das einen Platz am meistfrequentierten deutsch-französischen Grenzübergang in Kehl verdient hätte. Im Oktober 2021 antwortete der Geschäftsführer des im Forum am Rhein angesiedelten Theaters Eurodistrict BAden Alsace Guido Schumacher im Kulturforum des Eurodistrikts Straßburg Ortenau auf eine Frage nach den Gründen der Ansiedlung bei Neuried, in Kehl habe den Kommunalpolitikern der politische Wille gefehlt.
Dies sind nur zwei Beispiele einer Vernachlässigung der Kernstadt. Eine umfassende ortsteilbezogene Analyse der Gemeinderatssitzungen und des Vollzugs von Gemeinderatsbeschlüssen in der Kernstadt und den übrigen Ortsteilen steht nicht zur Verfügung und kann mit den Mitteln der Interessengemeinschaft Kernstadt Kehl nicht erstellt werden. Es weisen aber einige weitere Indizien auf Folgeschäden der Gebietsreform in Kehl hin.
4.1 Hinweise im Stadtentwicklungskonzept 2035
Hinweise auf Fehlentwicklungen, die ihre Ursache in der Gemeindegebietsreform haben, enthält das Kehler Stadtentwicklungskonzept 2035 vom Stuttgarter Büro Reschl Stadtentwicklung.
So wird auf Seite 167 festgestellt, es bestehe keine klare, gesamtstädtische Identität innerhalb Kehls, obwohl die Kernstadt und die umliegenden Gemeinden bereits vor vielen Jahren durch die Gebietsreform zusammengeführt worden seien. Oftmals würden die eigenen Interessen der jeweiligen Ortschaften einem gesamtstädtischen Interesse in der Stadtentwicklung vorangestellt.
Zur Partizipation der Kernstädter an der politischen Willensbildung heißt es auf Seite 170, die zehn Kehler Ortschaften hätten alle ihren eigenen Ortschaftsrat, der bei wichtigen Angelegenheiten, die die Ortschaften betreffen, angehört werde. Die Kernstadt sei somit der einzige Siedlungsbereich, für den es bislang keine raumbezogene Interessenvertretung gebe.
Daraus leiten die Verfasser des Stadtentwicklungskonzepts auf Seite 256 die Forderung ab, in Kehl solle die Einrichtung einer eigenen politischen Vertretung für die Kernstadt analog den Ortschaftsräten geprüft werden.
4.2 Hinweise in einem Interview mit OB Toni Vetrano in der Kehler Zeitung vom 01.07.2021 (s.a. Nachdruck in BSK Extrablatt, 1971-2021 50 Jahre eine Stadt, November 2021)
Im Juli 2021 hat die Kehler Zeitung daran erinnert, dass die Gebietsreform der 1970er Jahre am 1. Juli 1971 mit der Eingemeindung von Neumühl und Odelshofen begonnen hat. Die erste Folge der Serie enthält ein Interview, das Hans-Jürgen Walter mit dem damaligen Oberbürgermeister Toni Vetrano, im Amt von 2014 bis 2022, geführt hat.
OB Vetrano äußert darin, er habe in den Ortsteilen eine hohe Identifikation vorgefunden, viel ehrenamtliches Engagement für die Ortschaft und in Vereinen. Davon profitiere die Gesamtstadt. Schwierig werde es, wenn es um Projekte gehe, die nicht auf der Gemarkung der eigenen Ortschaft angesiedelt seien.
Die Kernstadt sei nicht angemessen im Gemeinderat vertreten. Das sei für die Kernstadt von Nachteil. Jeder Stadtrat, jede Stadträtin, bekenne sich bei der Verpflichtung zwar zur Gesamtstadt, in den Protokollen könne man jedoch nachlesen, dass „sich die meisten zuerst ihrer Ortschaft verpflichtet fühlen“.
Vetrano hält das für einen „Systemfehler“. Praktisch äußere der Fehler sich darin, dass es bei Projekten oft nicht nur um deren Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit gehe, sondern im Kopf die Frage mitschwinge, ob das Projekt in der Kernstadt oder der Ortschaft X das Vorhaben in der eigenen Ortschaft womöglich gefährden könne. Bei den Haushaltsberatungen spüre man die Scheren in den Köpfen. Als OB wünsche er sich, dass die Themen fair behandelt würden und alle Gemeinderäte den Blick für die Gesamtstadt hätten.
5. Fazit
Nach allem deutet einiges darauf hin, dass bei der Abstimmung im Gemeinderat am 13. Dezember „sich die meisten zuerst ihrer Ortschaft [und nicht der Kernstadt und der Gesamtstadt] verpflichtet“ fühlten. Ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung der zehn Ortschaften einerseits und der Kernstadt andererseits lässt sich daraus nicht ableiten.